Nachdem die Alliierten ihr in der Moskauer Deklaration vom 1. November 1943 festgehaltenes Kriegsziel der Wiederherstellung Österreichs erreicht hatten, förderten sie sogleich, als zentrales identitätsförderndes und -stiftendes Instrumentarium, die Wiederherstellung seines Kulturbetriebs. Man knüpfte hierbei nicht zuletzt an die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Vorstellung von Österreich als Kulturgroßmacht bzw. -nation an, welche im Wesentlichen zwei Funktionen erfüllte: Zum einen kompensierte sie, wenigstens ein Stück weit, den militärischen und machtpolitischen Bedeutungsverlust von der einstigen europäischen Großmacht zum besetzten, teils in Trümmern liegenden Kleinstaat, dessen Bevölkerung Hunger und Not litt. Zum anderen war sie dazu geeignet, die österreichische kulturelle Eigenart, ja „Überlegenheit“ gegenüber dem übermächtigen deutschen Nachbarn herauszustreichen. Dass diese Annahme freilich nicht notwendigerweise eine österreichische Eigenstaatlichkeit voraussetzte, hatte zuvor der NS-Gauleiter und -Reichsstatthalter von Wien, Baldur von Schirach, gezeigt, welcher den „nationalsozialistischen Abwehrwillen“ durch eine Betonung der Wiener Kultur stärken wollte. Der Wiener Zeithistoriker Oliver Rathkolb leitet daraus in seinen jüngsten Arbeiten (Stand 2020) die auf den ersten Blick paradox, auf jeden Fall aber provokant erscheinende These ab, dass die österreichische Identität bzw. deren Entwicklung ab 1945 zu einem Teil auch auf Schirachs kulturpolitischer Tätigkeit in Wien fußt.
In Wien lief das Kulturleben entsprechend dem Wunsch der sowjetischen Besatzer bereits Ende April bzw. Anfang Mai, also kurz nach der Proklamation der österreichischen Unabhängigkeit vom 27. April 1945 an: Das Burgtheater- sowie das Staatsopernensemble gaben ihre ersten Vorstellungen, die Wiener Symphoniker und Philharmoniker ihre ersten Konzerte. Im Juli konnten elf größere Wiener Theater ihren Spielbetrieb aufnehmen. Die Sowjets legten auch Wert darauf, dass die Größen des Wiener Kulturlebens, ungeachtet einer etwaigen NS-Vergangenheit, wieder in Erscheinung treten konnten. Vielleicht erging auch aus diesem Grund am 5. Juli 1945 von Seiten des Wiener SPÖ-Bürgermeisters Theodor Körner die Weisung an „alle Veranstalter auf kulturellem Gebiet“, die Programme ihrer Aufführungen dem Magistrat vorab zur Genehmigung vorzulegen. (Dokument 3) Das Kulturressort wurde sowohl auf Bundesebene, vorerst mit der faktischen Beschränkung auf die sowjetische Besatzungszone, als auch in der Stadt Wien von KPÖ-Politikern, Ernst Fischer und Viktor Matejka, besetzt, wobei ersterer auch die Unterrichts- und Erziehungsagenden betreute. Trotz der Zugehörigkeit zur gleichen Partei unterschied sich die Kulturpolitik der beiden Politiker durchaus: Während Fischer in erster Linie auf die traditionelle Hochkultur setzte, war Matejka auch die Gegenwartskunst und Moderne ein Anliegen. Seine Personalpolitik sollte den Argwohn von Teilen der SPÖ wecken, welche um den Einfluss auf Kultureinrichtungen, vor allem solchen, die der Partei nahestanden, fürchteten. (Dokument 2)
Um die Sicherstellung von Macht und Einfluss durch Postenbesetzungen ging es auch in einem Schreiben von sozialistischen Bildungspolitikern an den SPÖ-Parteivorstand, das zwei Tage nach den ersten demokratischen Wahlen der Zweiten Republik, am 27. November 1945, verfasst wurde. (Dokument 4) Die Autoren beklagen darin, dass seitens der Partei „den erziehungs- und bildungspolitischen Fragen nicht das Interesse zugewendet“ worden sei, „das ihnen zukommen müßte“. Der parteiintern verbreiteten Auffassung, dass andere Politikbereiche – Wirtschaft, Ernährung, Soziales – wichtiger seien, wurde energisch widersprochen: Jedermann wüsste, „von welch entscheidender Bedeutung für die geistige Beeinflussung und Führung des ganzen Volkes“ gerade die Stellen in den Bildungsinstitutionen seien. Die bevorstehende Regierungsbildung im Bund und in der Stadt Wien nahmen die unterzeichneten SPÖ-Bildungspolitiker zum Anlass für eine Reihe von personalpolitischen Forderungen, welche zumindest auf Bundesebene ungehört verhallten (vgl. dazu die Dokumente des Kapitels 7, Koalition, zu den Regierungsverhandlungen im Herbst 1945). In Wien konnte hingegen immerhin die Ablöse des bisherigen geschäftsführenden Stadtschulratspräsidenten Leopold Kunschak, ÖVP, welcher in SPÖ-Kreisen besonders umstritten war (Dokument 5), durch den Sozialisten Leopold Zechner als Erfolg verbucht werden. Entsprechend dem thematischen Schwerpunkt der vorliegenden Dokumente wird im Folgenden der Schulpolitik das Hauptaugenmerk gewidmet.
Die österreichische Politik und damit auch die Schulpolitik der unmittelbaren Nachkriegszeit konnte aufgrund der Besatzung des Landes nur im Einvernehmen mit den vier alliierten Mächten Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankeich gestaltet werden, welche mit dem Ersten Kontrollabkommen vom 4. Juli 1945 eine Alliierte Kommission für Österreich einrichteten. Als Folge des Abkommens wurden die bisher für jede Besatzungsmacht gesondert bestehenden Abteilungen für Schul- und Erziehungsfragen zu einem „Quadripartite Committee on Educational Affairs“ (ab 1947: „Educational Directorate“) vereint. Beim ersten Treffen von Vertretern des Komitees und des Unterrichtsstaatsamtes am 8. September 1945 wurden für den Schulbetrieb essentielle Fragen wie die Beschaffung von Fensterglas und Heizmaterial ebenso besprochen wie die Entnazifizierung des Lehrkörpers oder die Erstellung neuer Lehrpläne. Für die Entnazifizierung des Schulwesens kamen dieselben Bestimmungen zur Anwendung, die auch für den übrigen Staatsdienst galten: Schwer belastete vormalige NationalsozialistInnen wurden ausgeschlossen, alle anderen LehrerInnen einer politischen Überprüfung unterzogen. Diese umfasste ein Bekenntnis zu Österreich und den Nachweis der Zugehörigkeit oder zumindest Nähe zu einer der zugelassenen politischen Parteien, welche gleichsam für den oder die Betreffende bürgte. Die Entnazifizierung geschah in Wien gründlicher als im restlichen Österreich, wo die Personalsituation ein allzu rigoroses Vorgehen nicht zuließ. Im Bereich der Lehrpläne sollte grundsätzlich an die Verhältnisse angeknüpft werden, wie sie bis zur Ausschaltung des Parlaments im Jahr 1933 bestanden hatten, wobei jedoch den „unabweislichen Forderungen der Gegenwart“ Rechnung zu tragen war. Diese unbestimmte Formulierung ermöglichte den konservativen westlichen Bundesländern de facto, die – neueren – Lehrpläne aus der Zeit des Austrofaschismus wieder in Geltung zu setzen. Davon abgesehen erwies sich die Fortschreibung der schulpolitischen Verhältnisse der Ersten Republik noch aus zweierlei Gründen problematisch: Einerseits wurde damit auch die ungeklärte Kompetenz für Schulfragen zwischen Bund und Ländern übernommen, die es erforderlich machte, dass neue Schulgesetze sowohl vom Nationalrat als auch den neun Landtagen in übereinstimmender Form gemeinsam beschlossen werden mussten („paktierte Gesetzgebung“). Andererseits drohte ein Wiederaufflammen des „Kulturkampfes“ zwischen dem sozialdemokratischen und dem katholischen Lager um die Rolle der Katholischen Kirche im Bildungswesen. Da dies angesichts der herrschenden wirtschaftlichen Notlage weder ÖVP noch SPÖ opportun erschien, kamen beide Parteien rasch überein, künftig einen derartigen Kulturkampf vermeiden zu wollen, ohne dabei jedoch die Streitfragen zu klären. (Dokument 1) Der Konflikt wurde zusätzlich dadurch entschärft, dass die Katholische Kirche selbst bereits 1933 der Tages- und Parteipolitik abgeschworen hatte, welche Entscheidung sie nach dem Krieg bekräftigte.
Der Bildungshistoriker Helmut Engelbrecht misst daher – angesichts des geringen gesetzlichen Spielraums und der politischen Prioritätensetzung im Wiederaufbau, welche die Bildung gegenüber der Wirtschaft als nachrangig betrachtete – den programmatischen Ansagen der Parteien zur Bildungspolitik vor allem einen deklamatorischen Charakter zu. Engelbrecht zufolge besaß die ÖVP in Bildungsfragen im Vergleich zur SPÖ ein unschärferes ideologisches Profil, das ihr eine größere Handlungsfreiheit und ein defensives Vorgehen im Sinne einer Erhaltung des Status quo erlaubte. Im „Erziehungs- und Schulprogramm“ der ÖVP, welches von Generalsekretär Felix Hurdes, der seit dem 20. Dezember 1945 auch das Unterrichtsressort führte, vorgelegt wurde, war folgerichtig eine Beibehaltung des differenzierten Schulsystems mit nur geringen Modifikationen enthalten, so war etwa eine Verlängerung der Primarstufe um ein Jahr auf fünf Jahre angedacht. Das Erziehungsrecht wurde vorrangig bei den Eltern gesehen, ein staatliches Bildungsmonopol daher abgelehnt. Vielmehr sollte sich der Staat an der Finanzierung von Privatschulen mit Öffentlichkeitsrecht beteiligen. Diese Forderung zielte in erster Linie auf katholische Privatschulen ab, deren Subventionierung aus Sicht der ÖVP durch das Konkordat des Jahres 1933 zwischen dem Heiligen Stuhl und dem damals schon autoritär regierenden Kabinett Dollfuß geregelt war. Die SPÖ, welche die Gültigkeit des Konkordats bestritt, hatte bereits am 27. August 1945 einen Entwurf für ein Schulprogramm formuliert. (Dokument 6) Sämtliche „Schul-, Erziehungs- und Bildungseinrichtungen“ sollten demnach „staatlich und nicht konfessionell“ geführt werden. „Den weltanschaulich orientierten Gemeinschaften“ wurde freigestellt, „für einen unverbindlichen Weltanschauungsunterricht“ außerhalb des öffentlichen Bildungswesens zu sorgen. Damit wurde, wenn auch verklausuliert, dem Pflichtgegenstand Religion eine eindeutige Absage erteilt. Weitere Forderungen waren die unentgeltliche Inanspruchnahme sämtlicher staatlichen Bildungseinrichtungen, die Koedukation, also der gemeinsame Unterricht von Mädchen und Buben, sowie die Einheitsschule für alle schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen. Die KPÖ gab nach dem Ausscheiden Ernst Fischers aus der Regierung ihren anfänglichen Konsenskurs auf, der Maßnahmen wie die Wiedereinführung des Pflichtgegenstands Religion (mit der Möglichkeit der Abmeldung) ebenso beinhaltet hatte wie die Wiedereröffnung der katholischen Privatschulen im Umfang von 1938, und bekannte sich 1946 zu einer schulpolitischen Programmatik, die jener der SPÖ ähnelte.
Während die zunehmende Marginalisierung der KPÖ die Umsetzung ihrer politischen Ziele von vornherein verunmöglichte, sah sich die SPÖ mit der für sie unangenehmen Situation konfrontiert, dass die österreichische Verfassungswirklichkeit, Stichwort „paktierte Gesetzgebung“, der ÖVP als beharrender Kraft in die Hände spielte. Selbst Druck von Seiten der Alliierten, welche im Zweiten Kontrollabkommen vom 28. Juni 1946 ausdrücklich die Aufstellung eines „fortschrittlichen Erziehungsprogramms auf lange Sicht“ forderten, vermochte den bildungspolitischen gordischen Knoten nicht zu lösen. Die diesbezüglichen Stellungnahmen in den vorliegenden SPÖ-Parteivorstandsprotokollen des Jahres 1946 erwiesen sich vor diesem Hintergrund, salopp gesprochen, als Ausdruck des Wollens, aber nicht Könnens: In der Sitzung vom 6. Mai 1946 wurden die Streitfragen Schulkreuz und katholische Schulen thematisiert. (Dokument 7) Vizekanzler Schärf meinte, „Detailentscheidungen“ seien „noch nicht nötig“, der Linzer Bürgermeister Koref ergänzte, es sei „taktisch klüger, von dem Kampf Abstand zu nehmen“. Einzig der Wiener Bürgermeister Körner schlug einen kämpferischen Ton an, drohte gar, Kardinal Innitzer mit dessen umstrittener Rolle während der NS-Zeit zu konfrontieren, wohingegen die Vertreter der Bundesländer Steiermark, Kärnten, Salzburg und Niederösterreich Koref beipflichteten. Am 20. Mai berichtete das niederösterreichische Vorstandsmitglied Franz Popp, der außerdem dem Sozialistischen Lehrerverein angehörte, von einer Aussprache mit Schärf und Hurdes, in der vereinbart worden war, dass die Schulkreuzfrage „gegenwärtig zu ruhen hat“. (Dokument 8) Am 1. Juni wurde vermeldet, dass die Klärung der offenen Punkte Schulkreuz und Schulgebet den Ortsschulräten überantwortet werden sollte, die ihrerseits die Meinung der Eltern einzuholen hätten. (Dokument 9) In der Parteivorstandssitzung vom 11. Juni wurde beschlossen, diesen Ansatz wieder fallen zu lassen; die begonnenen Verhandlungen mit der ÖVP sollten fortgesetzt werden. (Dokument 10) Ein Genosse „Salinger“, welcher in der Teilnehmerliste nicht vermerkt ist, wird mit der Aussage zitiert, man solle „keine Prestigefrage daraus machen. Wenn Wien den Kampf aufnimmt, wird das Land die Zeche zahlen“. Noch im Jahr 1946 konnte eine Teileinigung erzielt werden, mit welcher die SPÖ der ÖVP weit entgegen kam: In Pflichtschulklassen, deren SchülerInnen mehrheitlich am Religionsunterricht teilnahmen, sollte die Anbringung eines Kreuzes ebenso möglich sein wie ein kurzes Gebet jeweils zu Unterrichtsbeginn und -schluss.
Ein Konsens konnte wenige Jahre später auch beim Religionsunterricht erreicht werden, der bis dahin nur auf Basis der vorläufigen Regelung des Jahres 1945 abgehalten werden konnte. Das Religionsunterrichtsgesetz von 1949 bestätigte im Wesentlichen den vier Jahre zuvor unter Staatssekretär Fischer gefundenen Kompromiss. Die SPÖ vermochte als kleinen Erfolg zu verbuchen, dass der Pflichtgegenstand Religion nur in jenen berufsbildenden Schulen zugelassen wurde, in denen dies bereits zum Stichtag 13. März 1933 der Fall gewesen war. Die ÖVP konnte wiederum durchsetzen, dass die ReligionslehrerInnen, soweit sie vom Staat angestellt waren, in Besoldung und Dienstrecht den sonstigen Lehrkräften gleichgestellt wurden. Wie sehr die Sozialdemokratie in der schulpolitischen Diskussion ins Hintertreffen geraten war, zeigte 1951 ein Entwurf des Unterrichtsministeriums zur Abänderung des Religionsunterrichtsgesetzes, mit dem die Beschränkung des Religionsunterrichtes in berufsbildenden Schulen wieder aufgehoben werden sollte. Der geschäftsführende Wiener Stadtschulratspräsident Leopold Zechner und der Vizepräsident des niederösterreichischen Landesschulrats Hans Handl betonten in ihren Stellungnahmen gegenüber Vizekanzler Schärf gleichermaßen die Unannehmbarkeit des Gesetzentwurfes. (Dokument 11) Man könne, so Zechner, die bisherige Taktik seiner Partei kritisierend, „der Gegenseite“ kein „Zugeständnis nach dem andern“ machen, noch bevor überhaupt ein umfassendes Schulgesetz in Reichweite sei. Die SPÖ laufe mit dieser Vorgangsweise Gefahr, den Spielraum für künftige Verhandlungen allzu sehr einzuschränken. Handl argumentierte ähnlich, unterstellte gar mangelndes Interesse der Volkspartei am großen schulpolitischen Wurf und machte nebst den grundsätzlichen Bedenken auch auf die finanziellen Auswirkungen der ÖVP-Pläne aufmerksam. Zechner zeigte sich überzeugt, dass Minister Hurdes, im Wissen um deren Undurchführbarkeit, nicht so sehr aus eigenem Antrieb, als vielmehr im Auftrag der Bischofskonferenz handeln würde.
Die politische Debatte um die Reform der Schulgesetzgebung wurde mit Beginn des Jahres 1952 um eine weitere Facette bereichert: Vizekanzler Schärf schlug Unterrichtsminister Hurdes vor, der ÖVP beim strittigen Thema Eherecht entgegenzukommen, wenn diese im Gegenzug durch den Verzicht auf die Subventionierung der (katholischen) Privatschulen eine Einigung in der Frage des Schulgesetzes ermöglichen würde. (Dokument 12) Es war dies der Versuch eines schulpolitischen Befreiungsschlags, waren doch beim Eherecht die Verhältnisse annähernd umgekehrt gelagert: Die ÖVP forderte eine Reform, die SPÖ eine Beibehaltung des Status quo. Hintergrund war, dass auf dem Gebiet Österreichs seit 1938 die Zivilehe galt, woran auch die Zäsur des Jahres 1945 nichts änderte. Die Volkspartei schmerzte besonders, dass die kirchliche Trauung damit nicht nur jeglichen Rechtscharakter eingebüßt hatte, sondern auch explizit verboten war, sofern sie vor der staatlichen Trauung stattfinden sollte (§ 67 Personenstandsgesetz). Hurdes lehnte die Junktimierung der beiden Fragen ab, so dass die festgefahrenen Fronten der beiden Parteien vorerst weiter bestehen sollten. 1955 hob der Verfassungsgerichtshof § 67 PStG auf, womit das „Allermindest-Programm“ der ÖVP in Sachen Eherechtsreform, wie es Hurdes nannte, auch ohne Einigung mit den Sozialisten Wirklichkeit werden konnte.
Kurz nach dem Scheitern von Schärfs Versuch, die ÖVP zur Aufgabe ihrer Position betreffend die Finanzierung katholischer Schulen zu bewegen, schaltete sich die Katholische Kirche offen in die schulpolitische Auseinandersetzung ein. Im Hirtenbrief der österreichischen Bischöfe vom 10. Februar 1952 forderten diese die „freie Elternwahlschule“: Staatliche Schulen sollten, sofern eine Mehrheit der betroffenen Eltern dies verlangte, zu „öffentlichen katholischen Schulen“ umfunktioniert werden, die eine „ganzheitliche katholische Bildung“ (Helmut Engelbrecht) zu vermitteln hätten. Damit wären den katholischen Privatschulen bzw. deren geistlichen Erhaltern auch ohne staatliche Subventionen Lasten abgenommen worden. Jedenfalls diente die selbst von der ÖVP als undurchsetzbar erachtete Forderung, die im September beim 11. Österreichischen Katholikentag zum formellen Beschluss erhoben wurde, als Druckmittel in den Verhandlungen mit der SPÖ.
Im Februar 1952 wurden die Gespräche, nun unter dem neuen Unterrichtsminister Ernst Kolb, der wie sein Vorgänger Felix Hurdes der ÖVP angehörte, fortgesetzt. Am 6. März 1952 wurden die Dissens- und Konsenspunkte schriftlich festgehalten. (Dokument 13) Klärungsbedarf herrschte weiterhin beim Thema Privat- bzw., unausgesprochen, katholische Schulen, wiewohl sich die SPÖ hier einen großen Schritt auf die ÖVP zu bewegt hatte: Die Gewährung staatlicher Subventionen wurde nicht länger abgelehnt, sondern sollte sich an den Verhältnissen zum Stichtag 5. März 1933 orientieren. Eine Annäherung der Standpunkte gab es auch in der in der Frage der Verlängerung der Schulpflicht auf neun Jahre, uneinig war man sich nur, ob das zusätzliche Pflichtschuljahr als fünfte (ÖVP) oder neunte Schulstufe (SPÖ) eingereiht werden sollte. Die ÖVP äußerte außerdem den Vorbehalt, dass diesbezüglich die „Zustimmung bäuerlicher Kreise ungewiss“ sei. Unverändert waren hingegen die Positionen zur Schule der 10- bis 14-Jährigen; die SPÖ hielt an ihrem Konzept der Einheitsschule fest, die ÖVP am parallelen Weiterbestehen der Haupt- und der Langform der Mittelschule, d. h. des Gymnasiums. Außer Streit gestellt wurde unter anderem, dass das Bildungsziel auch ein „religiös-sittliches oder sittlich-religiöses“ Ziel enthalten sollte.
Da sich die Gegensätze zwischen den Regierungsparteien auch abseits der Schulpolitik zunehmend schwerer überbrücken ließen, wurden für den 22. Februar 1953 vorgezogene Neuwahlen angesetzt, in welchen die ÖVP nur aufgrund der Wahlarithmetik den ersten Platz vor der SPÖ (in Mandaten) knapp behaupten konnte. Die ÖVP verfolgte aus diesem Grund den von der SPÖ vehement abgelehnten Plan, das „bürgerliche“ Lager innerhalb der Koalition durch eine Einbindung des rechtsgerichteten VdU (Verband der Unabhängigen) zu stärken. (vgl. Kapitel 7) Die Regierungsverhandlungen fanden daher in einer äußerst gereizten Stimmung statt, in der inhaltliche Themen lange nur eine Nebenrolle spielten.
Bundeskanzler Figl und Vizekanzler Schärf trafen sich am 12. März 1953 zu einem Vier-Augen-Gespräch im Bundeskanzleramt, in dem neben der alles überstrahlenden VdU-Streitfrage auch die zukünftige Finanzierung der katholischen Schulen besprochen wurde. (Kap. 7, Dokument 31) Schärf vertrat die Auffassung, dass das nächste Budget im Nationalrat nur ohne den Posten „konfessionelle Schulen“ beschlossen werden könne. Figl informierte Schärf daraufhin, dass ÖVP-Klub- und Parteiobmann Raab diesfalls einen Zusatzantrag seines Parlamentsklubs zur Bewilligung besagten Budgetpostens erwäge. Schärf erachtete diese Vorgehensweise als verfassungswidrig und drohte mit einer Anfechtung vor dem VfGH. Am 19. März äußerte er gegenüber dem Hochkommissär der französischen Besatzungsmacht, Jean Payart, die Befürchtung, dass die ÖVP mit ihrem schulpolitischen Konfrontationskurs womöglich bewusst auf ein Scheitern der Gespräche hinarbeiten würde. (Kap. 7, Dokument 35) Payart erwiderte, er glaube, selbst der Nuntius sei „zur Zeit weniger an konfessionellen Schulen als an einer Fortsetzung der Koalition zu zweit“, gemeint war ohne VdU, interessiert.
Die ÖVP selbst schien inzwischen Zweifel an der verfassungsmäßigen Zulässigkeit ihres Vorhabens zu hegen: In der Verhandlungsrunde vom 24. März deutete Raab, der nach wochenlangen erfolglosen Gesprächen anstelle Figls mit der Regierungsbildung beauftragt worden war, unverblümt mögliche Umgehungskonstruktionen an. (Kap. 7, Dokument 38) Man solle „im Budget unter irgend einem Titel eine Post einsetzen, aus der Mittel an diese konfessionellen Schulen gegeben werden können und sei es zum Zwecke der Gebäudeerhaltung (historische Bauten) oder der Beschaffung von Lehrmittel[n] (Kreide etc.)“. Nachdem die SPÖ auch das, wenig überraschend, abgelehnt hatte, zeigte sich Raab zunächst unbeeindruckt und meinte, „es wäre nicht zu verhindern, daß die ÖVP-Abgeordneten, die der [K]atholischen Aktion angehören, einen solchen Antrag stellen“, lenkte dann aber doch ein: Er erklärte, die Frage zurückstellen zu wollen, freilich „mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß die ÖVP auf der Sache beharrt und es im Parlament zu einer Austragung kommen soll“. Am 26. März sah sich Vizekanzler Schärf in einer Unterredung mit ÖVP-Außenminister Gruber bemüßigt, die verfassungsmäßigen Bedenken der SPÖ näher zu erläutern. (Kap. 7, Dokument 40) Schärf zufolge erforderten staatliche Subventionen für konfessionelle Schulen „paktierte“, sprich übereinstimmende Gesetze von Bund und Ländern. Dies hätte der SPÖ angesichts der Mehrheitsverhältnisse in den Landtagen von Wien und Kärnten die Möglichkeit eines Vetos gegeben. Letztlich einigten sich die Verhandler darauf, dass ein koalitionsfreier Raum in einzelnen Sachfragen nur im Einvernehmen beider Parteien beschlossen werden konnte, womit auch ein eigenmächtiges Vorgehen der ÖVP in Schulfragen verunmöglicht wurde. Mangels Einigung wurde daher die schulpolitische „Erstarrung“, wie sie der geschäftsführende SPÖ-Klubobmann Bruno Pittermann am 16. April im Parlament beklagte (Kap. 7, Dokument 47), über die Regierungsbildung hinaus fortgeschrieben. Auch sollte das zwischenzeitlich von der SPÖ eingeforderte Unterrichtsministerium (vgl. Kap. 7, Dokument 33) bei der ÖVP verbleiben.
Gleichwohl blieb die Schulreform weiterhin auf der Agenda der Großen Koalition. Am 29. Oktober 1953 trafen Vertreter von ÖVP und SPÖ abermals zusammen, um über die strittigen Punkte zu beraten. (Dokument 14) Erneut drängte das Thema „konfessionelle Schulen“ alle anderen schulpolitischen Fragen in den Hintergrund, weshalb auf Betreiben des geschäftsführenden Wiener Stadtschulratspräsidenten Zechner die diesbezügliche, bereits zum Greifen nahe scheinende Einigung auf Basis der SPÖ-Position vom 6. März 1952 nicht zustandekam. Die Koalitionäre griffen daraufhin auf eine Lösungsstrategie zurück, die sie auch in anderen umstrittenen Materien anwandten: Die Entscheidung wurde an ein Expertengremium delegiert, das in diesem Fall die Bezeichnung „Komitee der Fachleute“ trug. Das Komitee trat im November und Dezember 1953 zu insgesamt fünf Sitzungsrunden zusammen, über deren Ergebnisse Zechner gegen Jahresende Bericht erstattete. (Dokument 15) Bezüglich der konfessionellen Schulen wurden die Verhandlungsergebnisse vom Frühjahr im Wesentlichen bekräftigt: Der Staat gewährte für 306 Dienstposten katholischer und acht Dienstposten evangelischer Schulen in ganz Österreich, also auch im Burgenland, das erst seit 1920 ein Teil Österreichs ist und daher eine gewisse verfassungsrechtliche Sonderstellung besitzt, Subventionen. Auffassungsunterschiede bestanden lediglich im Bereich der berufsbildenden Schulen und hinsichtlich der Einbeziehung von Landes- und Gemeindesubventionen. Die Schulpflicht wurde „[i]m allgemeinen“ von acht auf neun Jahre verlängert. Das zusätzliche Pflichtjahr wurde als neunte Schulstufe eingereiht und sollte einen berufsvorbildenden bzw. hauswirtschaftlichen Charakter besitzen. Für „bäuerliche Kinder“ wurde die Schulpflicht de facto nur auf achteinhalb Jahre verlängert, da als „Abschluß“ lediglich ein Winterhalbjahr vorgesehen war. In der Frage der Einheitsschule zeigte sich die ÖVP nicht einmal zur Einführung von Schulversuchen bereit. Das einzige Zugeständnis, Lateinunterricht auch in Hauptschulen anzubieten, um einen möglichen Übertritt in die Mittelschule bzw. das Gymnasium zu erleichtern, wurde von der SPÖ als „praktisch unmöglich“ bezeichnet. Die Wiedereinführung der Reformrealgymnasien, in denen Latein erst ab der fünften Klasse bzw. neunten Schulstufe angeboten wurde, bot jedoch einen Ausweg.
Mit dem Abschluss des Staatsvertrags 1955 endete auch die ohnehin bescheidene Einflussnahme der alliierten Mächte auf das österreichische Bildungswesen, welche in erster Linie den Fremdsprachenunterricht betraf. Als nachhaltig erwies sich der Bedeutungsgewinn des Englischen, wogegen die Zahl der SchülerInnen, die Russisch oder Französisch als Fremdsprache wählten, ab 1955 wieder stark zurückging. Die ÖVP machte weitere Fortschritte in der Schulgesetzgebung von einer Außerstreitstellung der Gültigkeit des Konkordats von 1933 abhängig. Die SPÖ erklärte sich dazu 1957 zwar grundsätzlich bereit, verlangte jedoch Modifikationen. Nachdem 1962 ein Zusatzvertrag zum Konkordat abgeschlossen wurde, der unter anderem die staatliche Subventionierung der Lehrerstellen in konfessionellen Privatschulen neu regelte und das Religionsunterrichtsgesetz von 1949 bestätigte, war der Weg frei für die Verabschiedung eines umfassenden Schulgesetzwerks. Die Kompetenzen von Bund und Ländern wurden nunmehr klar voneinander abgegrenzt, wodurch die „paktierte Schulgesetzgebung“ der Vergangenheit angehörte. Künftige Schulreformen auf Bundesebene bedurften allerdings einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Nationalrat. Dies bedeutete je nach Sichtweise entweder die Wahrung einer schulpolitischen Kontinuität oder die Prolongierung der parteipolitischen Blockadesituation. In organisatorischer Hinsicht wurde der bestehende Aufbau des Schulwesens weitestgehend bestätigt, die achtklassigen Mittelschulen wurden zu neunklassigen Allgemeinbildenden Höheren Schulen (AHS), für SchülerInnen, die über das neunte Pflichtschuljahr hinaus keine weitere Schullaufbahn anstrebten, wurde der Polytechnische Lehrgang geschaffen. Außerdem wurde eine generelle Schulgeldfreiheit festgelegt und die Pflichtschullehrerausbildung reformiert. 1969 wurde, nachdem ÖVP-Kreise ein entsprechendes Volksbegehren initiiert hatten, die neunte AHS-Klasse „vorübergehend“ (ab 1982 endgültig) abgeschafft.
Die Reformmaßnahmen der von 1970 bis 1983 amtierenden SPÖ-Alleinregierung beinhalteten beispielsweise die Abschaffung der AHS-Aufnahmeprüfungen, die Einführung der Koedukation und die kostenlose Bereitstellung von Lehrmitteln („Gratisschulbuch“). Das große bildungspolitische Ziel der Sozialdemokratie, die gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen, konnte hingegen nur in Schulversuchen erprobt werden. Politisch noch immer hoch umstritten, harrt es bis heute (Stand 2020), wenn man von halbherzigen Maßnahmen wie der Umgestaltung der Hauptschulen zu „Neuen Mittelschulen“ absieht, seiner Umsetzung.
Verwendete Literatur
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