Dieses Kapitel behandelt die Schul- und Hochschulpolitik im Zeitraum von 1953 bis 1966. Die Bildungspolitik wurde ab 1954 von Unterrichtsminister Heinrich Drimmel (ÖVP) geprägt, der ihr einen konservativen Anstrich verpasste, wogegen die SPÖ opponierte. Diese Konfrontation verzögerte Reformen mitunter jahrelang.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit waren austrofaschistische und nationalsozialistische Inhalte aus dem Bildungswesen entfernt worden.
Durch die Bundesverfassung ist festgelegt, dass Angelegenheiten der Schulbehörden des Bundes, der Länder und der Bezirke – wie etwa Fragen der Schulpflicht, der Schulorganisation, der Privatschulen sowie des Verhältnisses von Schule und Religionsgemeinschaften inkl. des Religionsunterrichts – prinzipiell nur mit Zweidrittelmehrheit im Nationalrat beschlossen werden können. (Schulgesetze mit einfacher Mehrheit wurden erst viel später beschlossen.) Dies betraf auch den Staatsvertrag mit dem Vatikan, der u. a. Schulfragen regelte. Das Bundesschulaufsichtsgesetz, das Pflichtschulerhaltungsgrundsatzgesetz, das Privatschulgesetz sowie das Religionsgrundsatzgesetz, welche wesentliche Teile einer weitgehenden Schulreform bildeten, wurden 1962 ebenfalls als Verfassungsbestimmungen erlassen.
Schule zwischen Staat und Kirche: Das Konkordat
Trotz erheblicher Auffassungsunterschiede über den Aufbau des Bildungssystems, z. B. die bereits in der Zwischenkriegszeit debattierte Gesamt- bzw. „Einheitsmittelschul“-Frage (Dokument 4, S. 2), gestalteten die beiden Großparteien die Schulgesetzgebung grundsätzlich im Konsens. Umstritten war jedoch unter anderem, ob und wieweit das von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß 1933 mit dem Vatikan geschlossene Konkordat, das 1934 ratifiziert worden war und die Stellung der römisch-katholischen Kirche, die als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannt worden war, stärkte – im Schulwesen angewendet werden sollte. „[…]) Zu den übrigen Differenzpunkten wird zunächst grundsätzlich eine Einigung darüber erzielt, daß eine mechanische Rückkehr zum Stande der Schulgesetzgebung vom 5.3.1933 und auch eine Kodifizierung nach dem tatsächlichen heutigen Stande nicht dem Willen der Regierungsparteien entspräche“, hielten ÖVP und SPÖ am 4.3.1954 in einer Parteienbesprechung fest. Die SPÖ warf der ÖVP vor, Beschlüsse von Parteienbesprechungen – etwa über Regelungen der Subvention konfessioneller Privatschulen – nicht einzuhalten. (Dokument 1)
Die SPÖ wollte die Gültigkeit des Konkordats grundsätzlich nicht anerkennen, weil es aus der Zeit des Austrofaschismus bzw. des sog. „Ständestaats“ stammte. Der Konflikt über das Konkordat erreichte im Juli 1955 einen vorläufigen Höhepunkt, als Außenminister Leopold Figl (ÖVP) und – vermutlich – Innenminister Oskar Helmer (SPÖ) in einer Aussprache ihre unterschiedlichen Auffassungen formulierten. Der SPÖ-Vertreter erklärte, dass er sich „nicht dazu bereit finden könne, das Konkordat als giltig anzusehen, es sei in einem Parlament beschlossen worden, ausschließlich durch christlichsoziale und Heimwehr-Abgeordnete, bei Anwesenheit eines einzigen Großdeutschen, während man uns Sozialdemokraten ins Gefängnis gesteckt habe. Ausserdem sei es nicht verfassungsmässig publiziert worden. Verhandlungen über eine Änderung des Konkordats auf der Grundlage seiner Gültigkeit seien für uns, also die SPÖ, nicht möglich.“ Selbst wenn damals eine Gültigkeit vorgelegen habe, sei diese durch den „Anschluss“ an Deutschland 1938, der auch Änderungen im Eherecht und der Schulgesetzgebung gebracht hatte, erloschen. (Dokument 5)
Wie brisant die Auseinandersetzung um die Frage des Konkordats war, zeigte sich auch darin, dass der Vatikan zum Österreichischen Staatsvertrag von 1955 laut Figl „absichtlich“ nicht gratuliert habe, „[…]) und das sei nicht nur wegen des Konkordats, sondern auch deshalb unterblieben, weil dem Vatikan die Neutralitätspolitik bedenklich vorkomme“, wie er in einem Gespräch mit Vizekanzler Adolf Schärf (SPÖ) im Oktober 1955 erwähnte. (Dokument 8)
In einer Aussprache zwischen Bundeskanzler Raab, dem neuen SPÖ-Vorsitzenden und Vizekanzler Pittermann und dem Apostolischen Nuntius in Österreich, Giovanni Dellepiane, traten 1957 die Meinungsunterschiede bezüglich des Konkordats zu Tage. Raab, dessen ÖVP das Konkordat grundsätzlich befürwortete, verwies auf einen vorangegangenen Beschluss des Ministerrats zur notwendigen Reform des Vertragswerks von 1934. Pittermann wiederum kritisierte, dass einzelne Mitglieder der ÖVP-Führung die Haltung der Regierung zum Konkordat torpedieren würden. Er meinte, „dass der Standpunkt der Bundesregierung, das Konkordat sei in Österreich nicht anwendbar, durch Massnahmen einzelner Organe, vor allem des Unterrichtsministers widerlegt sei.“ Der Vatikan, der auf der Gültigkeit des Vertrags beharrte, relativierte gleichzeitig dessen Inhalt. „In der Schulfrage sei das Konkordat von 1934 teilweise weniger weitgehend, als die gegenwärtigen Schulverhältnisse in Österreich“, beruhigte Dellepiane. (Dokument 10)
Die Konkordatsfrage wurde in den Regierungsverhandlungen mit der Bildungspolitik junktimiert. Die SPÖ befürchtete in der Frage einen Kulturkampf mit der ÖVP und der katholischen Kirche. (Dokument 11) Der Streit zwischen Unterrichtsminister Drimmel und der auf eine Gesamtlösung aller offenen Schulgesetzfragen bedachten SPÖ wurde prolongiert. 1958 stellte Drimmel bei einer Besprechung mit dem SPÖ-Verhandlungsführer, dem niederösterreichischen LH-Stv. Franz Popp, fest, dass „die Junktimierung zwischen Lehrerbildung und Subventionierung [von konfessionellen Privatschulen]) nicht gerechtfertigt erscheine, da in der letzten Frage eine Bindung an das nunmehr anerkannte Konkordat bestehe […])“. (Dokument 12) Das Konkordat war 1957 von der Bundesregierung grundsätzlich anerkannt worden. Modifizierungen erfolgten 1960 und 1962 im Rahmen des Schulgesetzwerkes, das den sogenannten „Schulvertrag“ nach sich zog.
Das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften und deren Auswirkung auf die Schulgesetzgebung führte generell immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Drimmel und der SPÖ, etwa in Protestantengesetzfragen. (Dokument 13)
Im Unterschied zu Drimmel, der als Verteidiger der kirchlichen Rechte im Schulwesen auftrat und drohte, das Thema in den Wahlkampf einzubringen, war die Kirchenführung selbst ab den 1950er Jahren eher auf einen Ausgleich bedacht. Erzbischof Franz König war an einem guten Verhältnis zwischen Kirche und SPÖ gelegen. (Dokument 9)
Der im Juni 1960 mit der Katholischen Kirche geschlossene Vermögensvertrag und die Errichtung der Diözese Eisenstadt im August 1960 waren erste Schritte zur Neuregelung des Konkordats. In deren Gefolge wollte Drimmel auch die Schulfrage regeln. Im Juli 1962 schlossen der Vatikan und die Republik Österreich den sogenannten „Schulvertrag“, der die mit dem Schulwesen zusammenhängenden kirchlichen Fragen ordnete. Die SPÖ anerkannte dieses modifizierte Konkordat; die Katholische Kirche verzichtete auf ein öffentliches konfessionelles Schulwesen.
Schulpolitik
Vizekanzler Adolf Schärf (SPÖ) riet Bundeskanzler Julius Raab (ÖVP) im Mai 1954 von der Aufnahme der „Schulsachen in die Parteienbesprechungen“ ab und meinte, dass Unterrichtsminister Ernst Kolb (ÖVP), der von der Katholischen Lehrergewerkschaft zur Zurücknahme einer Vereinbarung gedrängt worden war, „veranlasst werden (solle), die ausständigen Fachmännerbesprechungen doch endlich wieder aufzunehmen und zu Ende zu führen; auch wir könnten ohne Zustimmung der Fachleute nicht abschliessen.“ In der Frage der Finanzierung des Schulwesens traten ideologische Standpunkte gegenüber pragmatischeren Überlegungen in den Hintergrund, wie etwa, ob Lehrer_innen an konfessionellen Schulen individuell aus dem Budget oder ob einzelne Schulen pauschal finanziert werden sollten. Schärf wies Verkehrsminister Karl Waldbrunner (SPÖ) darauf hin, dass konfessionelles Lehrpersonal schlechter bezahlt werde und dass „lieber der Staat eventuell Pensionsansprüche auf sich nimmt, als daß er eine Pauschalsumme aussetzt, aus der dann bei schlechter Bezahlung etwa die doppelte Zahl von Lehrpersonen besoldet wird.“ (Dokument 2) Bei den Besprechungen des „Schulfachleute-Komitees“, Anfang Juni 1954, über die Neuregelung der Ausbildung der Lehrer_innen, hielten nicht nur die SPÖ, sondern auch der Bundesrat und Landesschulinspektor Anton Frisch (ÖVP) einen am 4. März 1954 gefassten Beschluss für bindend; Kolb und die übrigen ÖVP-Schulfunktionäre Palfinger und Haselbacher jedoch nur für informativ. Bei Umstrukturierungsversuchen im Schulwesen übte nicht nur die SPÖ, sondern auch die Katholische Lehrergewerkschaft Druck auf Unterrichtsminister Kolb aus. Die SPÖ warf Kolb vor, sich nicht an gefasste Beschlüsse zu halten. (Dokument 3) Im Oktober 1954 musste Kolb zurücktreten, da er zwischen den verschiedenen Positionen aufgerieben zu werden drohte.
1955 waren sich ÖVP und SPÖ grundsätzlich einig geworden, dass eine neue Schulgesetzgebung und die Verlängerung der Schulpflicht von acht auf neun Jahre dringend notwendig waren. Der österreichische Wirtschaftsstandort verlangte nach besser ausgebildetem Personal. Die unterschiedlichen Vorstellungen über die Inhalte der Schulpolitik entzweiten die beiden Parteien jedoch derart, dass eine jahrelange Blockade die Folge war. Der Nachfolger Kolbs als Unterrichtsminister, Heinrich Drimmel (ÖVP), vertrat den Standpunkt, dass es Teillösungen geben sollte, wenn eine Gesamtlösung nicht möglich wäre. Vor allem der NR-Abgeordnete und Wiener Stadtschulratspräsident Leopold Zechner (SPÖ) und Minister Waldbrunner waren gegen stückweise Reformen; sie forderten eine „Junktimierung der einzelnen Probleme“ und somit eine Gesamtlösung. In einem Dokument von 1955 wurden zwar gemeinsame Auffassungen in der Schulgesetzgebung festgehalten, das Trennende überwog jedoch und lähmte die weitere Schulpolitik. Bei jeder Schulform traten die unterschiedlichen ideologischen Vorstellungen der beiden Parteien zum Vorschein. Solange etwa das 9. Schuljahr nicht eingeführt wurde und es bei acht Jahren blieb, sollte ein freiwillig gewählter einjähriger Lehrkurs mit berufsbegleitendem Charakter anerkannt werden. (Dokument 4, S. 1) Ein weiterer Streitpunkt waren die Hauptschulen, die die SPÖ, obwohl sie prinzipiell für eine Gesamtschule der Zehn- bis Vierzehnjährigen eintrat, nicht ablehnte. Für die ÖVP sollte die Hauptschule eine „Vorbereitung für das praktische Leben“ bieten; nach Vorstellungen der SPÖ sollte sie der Allgemeinbildung dienen und eine Berufsvorschulung erst danach beginnen. (Dokument 4, S. 2) Die sofortige Finanzierung des 9. Schuljahres galt als problematisch. (Dokument 6, S. 2) Zwischen den Parteien bestand zudem keine Einigung über die zukünftige Ausbildung der Lehrkräfte. (Dokument 6, S. 5) Die Schulfachleute der SPÖ gingen davon aus, dass in der Frage der konfessionellen Schulen keine grundsätzliche Übereinstimmung erzielt werden würde, aber zumindest eine tragbare Finanzierung möglich wäre. Alle wichtigen Punkte des Schulgesetzes sollten als Verfassungsbestimmungen erlassen werden. (Dokument 7, S. 2)
Trotz der teilweisen politischen Lähmung und der gegenseitigen Blockade im Unterrichtswesen konnten Anfang der 1960er Jahre Verhandlungen über die Schulgesetzgebung erfolgreich abgeschlossen werden. Schlussendlich wurde 1962 eine erste Schulnovelle durchgesetzt. Die zehn Gesetzesentwürfe waren das Ergebnis jahrelanger, oft mühsamer Verhandlungen und stellten die bedeutendste Schulreform seit 1945 dar. Es wurde die allgemeine Schulpflicht durch das Polytechnikum auf neun Jahre verlängert, die achtjährige Mittelschule, der ausgebaute Fremdsprachen-, Naturwissenschaften- und Mathematikunterricht wurden durchgesetzt. Die Ausbildung des Lehrkörpers wurde ebenfalls reformiert. Anstatt der Lehrerbildungsanstalt musste nun eine Pädagogische Akademie absolviert werden. Ebenso wurde die Ausbildung der Volksschullehrer_innen verbessert. Ende 1960 konnte auch eine Einigung über die Errichtung eines Schulbautenfonds erzielt werden, der aus Budgetmitteln finanziert wurde.
Die Schulreform von 1962 galt als Gemeinschaftswerk der beiden Großparteien. Die SPÖ betonte ihre Zustimmung als großes Entgegenkommen gegenüber der Kirche. Die ÖVP machte dafür in der Sozialgesetzgebung Zugeständnisse.
Nach der großen Schulreform konnten keine wesentlichen Reformen mehr durchgesetzt werden. Die zunehmenden Unstimmigkeiten in der Großen Koalition waren auch in der Schulgesetzgebung sichtbar. Noch 1962 äußerte sich die Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft in ihrer Stellungnahme zu den Gesetzesentwürfen negativ zur Einführung des Polytechnischen Lehrganges, der eine Verschlechterung der Stellung der Lehrlinge brächte. Stattdessen wurde nach wie vor ein fünftes Volksschuljahr befürwortet. Altkanzler Julius Raab, Präsident der Bundeskammer, und Generalsekretär Franz Korinek forderten auch eine Vertretung der gewerblichen Wirtschaft in den Schulaufsichtsorganen. (Dokument 14)
Im Juli 1962 beklagte sich die SPÖ darüber, dass die ÖVP ein angestrebtes Junktim zu Studienförderungs-, Heeresversorgungs- und Schulgesetzen nicht eingehalten habe. Die SPÖ verwies auf Vorabsprachen mit der ÖVP, die aber vom Koalitionspartner anders ausgelegt worden waren. „Das widerspricht in jedem Fall den ausdrücklich getroffenen Vereinbarungen, zu denen sich auch die von Ihnen uns gegenüber ermächtigten Unterhändler ausdrücklich bekannt haben.“ (Dokument 15)
Das Ende der Großen Koalition war auch an den Verhandlungen zur Schulgesetzgebung ablesbar. Im Dezember 1964 eskalierte im niederösterreichischen Landtag der Streit über das Lehrerdiensthoheitsgesetz. Die SPÖ verknüpfte dies laut Unterrichtsminister Theodor Piffl-Perčević (ÖVP) mit einer „Inhibierung der schulgesetzlichen Bestrebungen des Unterrichtsministeriums“. Piffl-Perčević bat Vizekanzler Pittermann, keine „Retorsion“ gegen die Schul- und Hochschulgesetzgebung, die gemeinsam gestaltet werden sollte, zu verüben. (Dokument 16) Diesbezügliche Schreiben gingen an eine Reihe von SPÖ-Spitzenfunktionären, darunter auch an den 2. Nationalratspräsidenten Waldbrunner. (Dokument 25) Waldbrunner fand Piffl-Perčevićs Schreiben „eigenartig“, da die ÖVP die Verhandlungen über das Hochschulstudiengesetz verweigern würde. (Dokument 26) Anstatt Verhandlungen zu führen, habe der Unterrichtsminister Anschuldigungen gegen die SPÖ erhoben, meinte Waldbrunner. (Dokument 27)
Hochschulpolitik
Heinrich Drimmel, der 1954 mit dem Unterrichtsministerium auch die Agenden der Hochschulen übernommen hatte, strebte eine Neuorganisation des Hochschulwesens samt dem Dienst- und Besoldungsrecht der Lehrenden an den Universitäten an. 1955 wurde ein Hochschul-Organisationsgesetz verabschiedet, durch das nicht nur das Universitätsrecht, sondern auch die Rechte der Studierenden neu geregelt wurden. Ende der 1950er Jahre traten die Mängel an den Universitäten immer offener zutage, sodass die Große Koalition sich um eine Reform kümmern musste. Das Hochschulstudiengesetz sowie die Hochschulförderung mussten modernisiert und den aktuellen Verhältnissen, d. h. den Erfordernissen eines modernen Kultur-, Wissenschafts- und Wirtschaftsstandortes, angepasst werden. Vor allem über die Studienförderung konnte keine Einigung erzielt werden. Die SPÖ forderte einen Rechtsanspruch auf Gewährung von Stipendien. Die Partei ging davon aus, dass trotz staatlicher Förderung nur mit einem allmählichen Anstieg der Zahl der Studierenden zu rechnen sein werde und die Finanzierung somit machbar wäre; die ÖVP lehnte diese Ideen der SPÖ als finanziell untragbar ab. Drimmel befürchtete, dass mit einer derartigen Regelung allein der Staat für die Mittel aufkommen müsse und Institutionen, die bisher Stipendien vergeben hatten, ihre Fördertätigkeit einstellen würden. Im Zusammenhang mit diesen Fragen stritten sich ÖVP und SPÖ über die Höhe der für eine Stipendiengewährung infrage kommenden Einkommensgrenzen. Für Drimmel standen Begabung und Leistung im Vordergrund, die SPÖ betonte das Kriterium der sozialen Bedürftigkeit. Minister Waldbrunner zog ab dem Sommer 1960 den „Bund Sozialistischer Akademiker“ (BSA) und den „Verband sozialistischer Studenten“ zu den Beratungen bei. (Dokument 17) Drimmel favorisierte ein Studienförderungswerk „auf Vereinsbasis“. Waldbrunner (SPÖ) ersuchte den Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) und die Arbeiterkammer (AK), sich gegen die Initiative Drimmels zu stellen, unter anderem deshalb, weil diese Konstruktion ÖVP-dominiert gewesen wäre. (Dokument 18) Österreich habe eine zu niedrige Quote an Hochschul-Absolvent_innen. Das schade dem Land, bemerkte Waldbrunner 1960. (Dokument 19)
Im Zuge von budgetären Kürzungen wurde 1961 auch das Kulturbudget reduziert, was negative Auswirkungen auf die Universitäten hatte. Drimmel bot sogar seinen Rücktritt an, was Bundeskanzler Alfons Gorbach (ÖVP) jedoch ablehnte.
Nach dem Beschluss des Schulgesetzwerkes 1962 kam es bei den Verhandlungen zur Hochschulpolitik zu monatelangen Unterbrechungen, die auch zu Unmut bei den Studierenden führten. Im März 1963 löste Franz Korinek (ÖVP) Josef Klaus als Finanzminister ab. Korinek bestand auf der Ablehnung der Vorschläge der SPÖ mit dem Argument, dass der Mehraufwand bei einem gesetzlichen Anspruch auf Studienbeihilfe eine zu große finanzielle Belastung wäre und zu einer „Verflachung des Ausleseprozesses“ führen würde. (Dokument 22) Im April 1963 beschwerte sich Waldbrunner bei Drimmel über die jahrelange Blockade beim Hochschulstudiengesetz und beim Studienfördergesetz. (Dokument 20) Drimmel wiederum begründete im Mai 1963 gegenüber BK Alfons Gorbach die Verzögerungen beim Hochschulstudiengesetz, vorhandene Auffassungsunterschiede in der Stipendienfrage zwischen der ÖVP-nahen Hochschülerschaftsvertretung und der Volkspartei und warnte, dass die SPÖ generell, auch im Schulverhandlungskomitee, zu viel Einfluss habe. (Dokument 21) Die ÖVP-Bundesparteileitung ermächtigte Drimmel, nicht nur die Schulverhandlungen wieder aufzunehmen, sondern unterstützte auch das „weitere Vorgehen in den Angelegenheiten des Studienförderungsgesetzes und des Hochschulstudiengesetzes“. (Dokument 23)
Im Juli 1963 wies der Bundessekretär für Wien und Niederösterreich des BSA, Franz Skotton, auf Änderungswünsche zum Entwurf des Studienbeihilfengesetzes, das die soziale Bedürftigkeit der Studierenden berücksichtigen müsse, hin. Skotton befürchtete u. a., dass die SPÖ in der geplanten Studienbeihilfenkommission nicht vertreten sein werde. (Dokument 24)
Im März 1965 wurde der Entwurf eines Hochschulstudiengesetzes vorgelegt, der zwar keine grundsätzliche Reform darstellte, aber der Versuch war, eine einheitliche und rechtsstaatliche Basis für die Studienordnungen zu schaffen. (Dokument 28)
Die vorliegenden Dokumente lassen erkennen, dass in der Bildungspolitik auch nach 1945 politische Standpunkte aus der Zwischenkriegszeit und des Austrofaschismus bzw. des sog. „Ständestaats“ eine nicht unwesentliche Rolle spielten, wenngleich sie in erster Linie nur mehr als Polemiken in Erscheinung traten. Beiden Parteien war klar, dass die Bildungspolitik den Erfordernissen eines nationalen Wirtschaftsstandorts und eines demokratischen Staates genügen müsse. Über die dafür notwendigen Voraussetzungen gingen die parteipolitischen Meinungen auseinander. Die Schulreform Anfang der 1960er Jahre war ein Meilenstein in Richtung eines modernen Bildungswesens, während die Hochschulpolitik diesem Anspruch in weit geringerem Ausmaß gerecht wurde.
Roland Starch, auf Grundlage eines Projektberichts von Johannes Schönner
Literatur
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Michaela Feuerstein-Prasser, Felicitas Heimann-Jelinek, Schulgeschichte Österreichs im 20. Jahrhundert, in: Reinhard Buchberger, Michaela Feuerstein-Prasser, Felicitas Heimann-Jelinek, Nina Linke (Hgg.), Tafelkratzer, Tintenpatzer. Schulgeschichten aus Wien, Wien 2016, 160-191.
Susanne Huss, Von der Bildungsexpansion zur Ware Bildung. Bildung im Netz von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Dissertation), Wien 2007.
Martina Pertl, Die Geschichte des LehrerInnenberufs in Österreich. Eine rechtshistorische Darstellung des Lehrberufs vom Ende des Zweiten Weltkrieg bis zur Feminisierung im 20. Jahrhundert (Masterarbeit), Graz 2017.
Robert Pham Xuan, Die Bildungspolitik der Zweiten Republik bis zum Ende der "Ära Kreiskys". Zwischen ökonomischen Herausforderungen und normativen Idealen; über die Natur von Reformen im Bildungswesen (Diplomarbeit), Innsbruck 2019.
Robert Rill, Heinrich Drimmel als konservativer Denker, in: Milan Hlavačka et al. (Hgg.), "Die Heimstatt des Historikers sind die Archive". Festschrift für Lothar Höbelt (=Schriftenreihe des Forschungsinstituts für politisch-historische Studien der Dr. Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg, Bd. 82), Wien-Köln 2022, 777-788.
Josef Scheipl, Helmut Seel, Die Entwicklung des österreichischen Schulwesens in der Zweiten Republik 1945-1987, Graz 1988.
Hermann Schnell, Bildungspolitik in der Zweiten Republik, Wien-Zürich 1993.
Veronika Wilfing, Die historische Entwicklung des österreichischen Studienbeihilfensystems von 1963 bis 2015 und deren Einfluss auf die soziale Selektivität an Universitäten (Diplomarbeit), Linz 2016.
Herbert Zdarzil, Nikolaus Severinski (Hgg.), Österreichische Bildungspolitik in der Zweiten Republik, Höbersdorf 1998.